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Es ist Freitag im September, früher Abend und ich stehe am Douro unterhalb der Altstadt von Porto. Heute Morgen bin ich bei strömendem Regen gelandet und genieße jetzt bei bestem Wetter und angenehmen Temperaturen den Augenblick. Bis vor zwei Tagen war in Portugal auch im Freien das Tragen einer medizinischen Maske vorgeschrieben. Jetzt laufen immer mehr Leute ohne Mundschutz im Freien herum. Am Ufer sitzen viele Leute und unterhalten sich ausgelassen. In den Bars und Restaurants nebenan essen und trinken die Leute an den Tischen mit Sicherheitsabstand. Ich bekomme den Eindruck, dass sich Portugal nach dem harten Einbruch durch die Pandemie erholt. Auf jeden Fall ist es ein guter Auftakt zu meiner Pilgertour, die ich endlich nach zwei Jahren Vorbereitung antreten kann.
Meinen Caminho beginne ich mit einer kurzen Reise in der Trambahn. Die historische Linie 1 geht entlang des Douro bis zur Mündung in den Atlantik. Die Fahrt an einem sonnigen Morgen ist eine Freude. Auch wenn das historische Fahrzeug mit Rollenstromabnehmer rumpelt und rattert schmälert es nicht das Vergnügen.
An der Endhaltestelle zeigt sich der Atlantik in seiner Weite und besten Farben. Jetzt beginnt allerdings der Fußmarsch auf dem Caminho und das ändert sich die nächsten 250 km nicht mehr.
An der Uferpromenade entlang geht es zuerst auf gepflasterten Wegen dahin. Vorbei an öden Hotelburgen komme ich nach Matosinhos, dem Hafen von Porto. Die gepflasterte Uferpromenade mit den Hotels und einer Partymeile will kein Ende nehmen. Ein junges Paar in Strandkleidung, das offensichtlich aus Österreich kommt, spricht mich an und fragt, warum hier so viele Wanderer mit großen Rucksäcken herumlaufen. Ich kläre die beiden auf und sie sind völlig überrascht, dass man von Porto aus auch nach Santiago laufen kann.
Gott sei Dank ist bald auch der Pflasterweg zu Ende und es geht auf Holzstegen die Küste entlang. Das einzige was eine Zeit lang noch stört ist eine riesengroße Raffinerie zu meiner Rechten. Die Holzstege sind teilweise in die Jahre gekommen und entsprechend morsch. Die Renovierung ist in vollem Gang, allerdings mit dem Nachteil, dass man auf die zuweilen verkehrsreiche Straße ausweichen muss.
An der Küste haben sich wohl viele betuchte Einwohner Portos ihren Traum vom Eigenheim erfüllt. Kilometerweise stehen Wohnblocks, Reihenhäuser und weiter nördlich auch ansehnliche Villen auf Distanz zum Strand. Es ist Samstag und am Strand ist viel Badebetrieb zu sehen. Eine der Strandbars sieht einladend aus, also kehre ich dort ein. Mit einem dicken Sandwich stärke ich mich und genieße den Ausblick mit Meer im strahlendem Sonnenschein. Der weitere Weg wird langsam angenehmer. Auf den Holzstegen und gewalzten Pisten werden die Füße geschont und die historisch gewachsenen Dörfer wirken anziehender als die gepflasterten Pisten am Vormittag.
Vila Cha ist für heute meine Endstation. In einer Pension habe ich vorab gebucht und genieße mein eigenes Zimmer. Ich überlege noch im Ozean zu baden, doch irgendwie fehlt mir heute die Lust auf Wasser. Außerdem steht die Flagge des Bademeisters auf rot. Mehrfach werde ich von Einheimischen darauf hingewiesen, dass es lebensgefährlich sein kann hier zu baden. Strömungen und unberechenbare Wellen führen jedes Jahr zu vielen, oft tödlichen Badeunfällen.
Um von Porto nach Santiago zu pilgern gibt es zwei Routen. Die klassische Route, der Caminho Central geht durch das Landesinnere Portugals, während der Caminho da Costa an der Küste bis zur spanischen Grenze verläuft. Dort treffen sich die beiden Routen und in Spanien geht es auf einem Weg zum Ziel. Eigentlich möchte ich ja den zentralen Weg laufen, doch ganz bewusst habe ich meinen Pilgerweg an der Küste begonnen. Der direkte Weg zum Caminho Central führt nämlich durch ein Industriegebiet und anschließend am Flughafen vorbei. Da ist die Trambahnfahrt am Douro und die Strandpromenade attraktiver.
Die Pilgerführer empfehlen daher den Caminho an der Küste zu beginnen und beschreiben Wege um von Vila do Conde aus zum Caminho Central zu wechseln. Während ich tags zuvor einfach nur der Küste entlang laufen musste, ist heute navigieren nach Pilgerführer angesagt. Das ist anstrengend und an jeder Kreuzung muss ich meine Position prüfen. Die sonst üblichen Wegweiser am Pilgerweg gibt es hier kaum. Einige wenige gelbe Pfeile sind offensichtlich bewusst falsch, um Pilger in Bars und Restaurants zu locken. Trotz dieser Widrigkeiten schaffe ich es, am frühen Nachmittag Rates zu erreichen, wo ich schnell eine Unterkunft finde. Der kleine Ort hat einen schnuckeligen Kern mit alten, gut gepflegten Häusern den ich mir noch ansehe.
In meiner Unterkunft gibt es coronabedingt am folgenden Tag kein Frühstück, sodass ich zur benachbarten Bar gehe als ich aufbreche. Die Wirtin dort ist erfreut, mich heute Morgen als Pilger mit Frühstück versorgen zu dürfen. Auf Englisch erzählt sie von den Jahren ohne Corona an denen jeden Tag die Bar gut gefüllt sei. Jetzt bin ich wohl einer der seltenen Pilger die hier vorbeikommen. Ein Fotoalbum, das als Gästebuch dient, wird mir vorgelegt. Die Wirtin bittet mich um einen Eintrag und bietet mir einen Stempel für den Credencial an.
Ab heute beginnt spürbar der Caminho Central. Ich laufe durch eine leicht hügelige Landschaft mit satten grünen Farben. Wegweiser in Form der gelben Pfeile und Muscheln gibt es auch und so bin ich nicht darauf angewiesen fortwährend den Pilgerführer zu lesen oder mit GPS meine Position zu prüfen. Das Ergebnis ist entspanntes Laufen und Genießen der Landschaft. Die Wegführung geht durch gepflegte Orte, an Bächen und kleinen Flüssen entlang. Neben Wiesen gibt es ausgedehnte Ackerflächen, die zumeist abgeerntet und gepflügt sind. Die Weinstöcke sind ebenfalls zum großen Teil bereits abgelesen. Fast jeden Tag überquere ich einen größeren Fluss. All das zeigt mir den Norden Portugals als wasserreichen Teil der iberischen Halbinsel.
Natur zeigt sich aber auch in anderen Formen. Frühmorgens kommt mir aus dem Dunklen ein schwarzes Tier entgegen gelaufen, das ich zuerst für einen Hund halte. Komisch nur, dass das Tier am Fallobst knabbert welches am Wegrand liegt. Als es näher kommt wird ein rabenschwarzes kleines iberisches Schwein sichtbar, das wohl ausgebüchst ist.
In Barcelos fühlt man sich als Pilger zuerst fremd. Der Pilgerweg läuft mitten durch eine Fußgängezone, die chice Mode, Kosmetik und andere feine Dinge bietet, die ein Pilger so garnicht braucht. Barcelos hat aber wesentlich mehr als nur eine Shoppingmeile zu bieten. Sehr gepflegte barocke Bauten und viele schöne Gärten zieren das Innere der Stadt und machen den Aufenthalt zum kleinen Erlebnis.
In diesen Tagen bringt die Unterkunftssuche fast täglich Nervenkitzel mit sich. Viele Herbergen, Pensionen oder Hotels sind wegen Corona geschlossen und das Angebot zurzeit nicht groß. Herbergen dürfen, wenn überhaupt, nur jedes zweite Lager vergeben. Täglich versuche ich per Telefon oder SMS eine Unterkunft für den Abend zu reservieren, doch das gelingt nicht immer. Als Konsequenz muss ich einmal in einem teuren Hotelzimmer übernachten und tags darauf steigt mein Blutdruck am Eingang einer Herberge. Der Hospitalero erklärt, dass er eigentlich wegen Corona nicht so viele Pilger aufnehmen darf. Er telefoniert noch mit anderen Herbergen in der Umgebung und kann für mich und zwei andere Pilger keine Ersatzunterkunft finden. Gott sei Dank drückt er ein Auge zu und gibt uns in seiner weitläufigen Unterkunft noch Schlafplätze.
Ponte de Lima ist ein Ort, der mir schon im Reiseführer aufgefallen ist. Insbesondere die mittelalterliche Brücke über den Rio Lima beeindruckt schon von Weitem. Ich laufe den Fluss aufwärts und kann die einzelnen Bögen bewundern, die sich über den breiten Fluss spannen. Im Ort Ponte de Lima angekommen sind dort reihenweise nur Touristen in Cafés. Die Brücke scheint wohl wahre Busladungen an Tagestouristen anzulocken. Als Pilger ist es allerdings schwierig in den überfüllten Cafés und Restaurants einen Platz zu bekommen, um sich einen Sandwich zu bestellen.
Der Pilgerweg zwischen Ponte de Lima und Rubiaes wird in Reiseberichten und Pilgerführern als landschaftlich besonders reizvoll beschrieben. Entsprechend ist die Erwartungshaltung als ich an diesem Tag aufbreche. Schon zu Beginn meines Weges fängt es an zu regnen und zwar in Strömen. Jetzt heißt es den Poncho anziehen, sonst bin ich bald bis auf die Knochen nass. Der Weg verwandelt sich binnen Minuten in eine einzige Lache und jetzt rächt es sich keine knöchelhohen Stiefel zu tragen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als einige Meter oberhalb des Weges in der Böschung zu laufen. Das Ganze mit 10 kg Gepäck und einem ausladenden Poncho gekleidet.
Trotz griffigen Profils rutsche ich ab und kann mich nur im letzten Augenblick an einem Busch festhalten um nicht der Länge nach in einer Pfütze zu landen. Das zehrt an den Kräften. Zwischendurch geht es wieder auf asphaltierten Straßen weiter, so kann man trotz Regen wenigstens Strecke machen.
Ab Bandeira geht es zügig bergauf. Zuerst zum Cruz dos Franceses und dann weiter steil nach oben auf den Portela Grande. Der Regen hat zwar schon vor einiger Zeit aufgehört, trotzdem ist der Boden schlammig. Dazu kommt, dass der steile Weg mit großen Steinen übersät ist und das Fortkommen dadurch zusätzlich erschwert wird. Auf dem Portela Grande oben angekommen bin ich froh, dass sich dort eine Trinkwassereinfassung befindet und ich meine Flaschen füllen kann. Danach geht es noch über eine Stunde bergab, zwar nicht ganz so steil, jedoch wieder auf einem sehr steinigen Weg.
Kurz vor 19:00 h erreiche ich endlich meine Herberge und bin froh mein Lager beziehen zu können. An diesem Tag bin ich trotz Regen 30 km gelaufen und habe kumuliert mehr als 1.000 Höhenmeter überwunden.
Die Infrastruktur in Rubiaes ist pilgerfreundlich, will heißen, ein Restaurant mit Pilgermenü, ein Café für´s Frühstück und ein Supermarkt um sich mit Proviant einzudecken sind vorhanden. Das Wetter ist heute sonnig bei angenehmen Temperaturen, also alles perfekt für den letzten Tag in Portugal. Durch Wald und Wiesen erreiche ich nach ein paar Stunden Laufen Valença.
Die Altstadt ist eine historische Festungsanlage mit sehr schönem Kern. Läden bieten neben touristischen Devotionalien auch regionale Produkte an. Dazu gehören Lebensmittel und Tischschmuck.
Corona macht das Pilgern bekanntermaßen aufwändiger als zu normalen Zeiten. Dazu gehört auch, dass Grenzübertritte mit Formalitäten verbunden oder gar unmöglich sind. In Mitteleuropa sind wir seit dem Schengen-Abkommen keine Einreisebeschränkungen gewohnt, Grenzkontrollen gibt gibt es ebenso praktisch nicht mehr. Bis wenige Tage vor Reiseantritt war ein Grenzübertritt von Portugal nach Spanien noch anmeldepflichtig. So muss ich vor meinem Grenzübertritt regelmäßig in der App Sicher Reisen des Auswärtigen Amtes nachsehen, wie der Stand der Dinge ist. Eine Anmeldung ist momentan bei Einreise über den Landweg nicht erforderlich.
Von der Stadtmauer Valenças sind es nur wenige Meter zur Grenzbrücke über den Rio Minho (spanisch Rio Miño). Die interessante Brücke aus dem 19. Jahrhundert hat eine äußere, genietete Stahlkonstruktion. Links und rechts des Fahrwegs sind jeweils breite Fußwege. Auf der rechten Seite überquere ich die Brücke über den Fluss. Die Breite des Grenzflusses beeindruckt mich mächtig, denn im Jahr 2017 überquerte ich den Minho mehr als 100 km flussaufwärts in Portomarin. Ein kleines Rinnsal war das seinerzeit und hier ist jetzt soviel Wasser. Als ich am anderen Ufer das Grenzschild zu Spanien passiere steigt Erleichterung in mir auf. Die Grenze hätte ja auch geschlossen sein können.
Gleich hinter der Grenze kommt die Stadt Tui. Ich habe für die kommende Nacht nichts gebucht und habe die Hoffnung, in einer Stadt wie hier spontan was zu finden. Gerne hätte ich ein Zimmer mit Dusche und wunderbarerweise klappt das auch ziemlich schnell. Später erfahre ich, dass die spanischen Behörden mittlerweile nicht mehr so restriktiv sind und daher viele Bars, Herbergen und Pensionen in Galicien schon wieder offen haben. Portugal dagegen hat es in diesem Jahr arg mit Corona gebeutelt und so ist es verständlich, dass Hotellerie und Gastronomie sehr zurückgefahren wurden.
Tui selbst ist ein nettes Städtchen mit einer Hauptstraße, die teilweise zur Fußgängerzone ausgebaut ist. Restaurants, Bars und Läden für den täglichen Bedarf gibt es hier und die haben auch alle geöffnet. Nach dem Gewaltmarsch tags zuvor ist es wohltuend einen Espresso am Nachmittag zu trinken.
In Spanien ändert sich die Infrastruktur für Pilger. Sind die Wege in Portugal vorzugsweise (historisch) gepflastert, ist in Spanien gewalzter Schotter das verbreitete Material für den Pilgerweg. Die mittlerweile legendären gelben Pfeile gibt es in Portugal als Wegweiser ebenso wie in Spanien, doch sind die in Spanien größer und öfter vorzufinden. Gelbe Pfeile zeigen jedoch nicht immer den richtigen Weg in Spanien. Im Pilgerführer wird darauf hingewiesen, dass rund um O Porriño falsche Pfeile aufgesprüht sind. Aus dieser Warnung ziehe ich Konsequenzen und verwende zur Navigation mein Smartphone, das ich mit gpx-Tracks geladen habe. Stur nach meinem Gerät geht es los und schnell zeigen sich Pfeile die irgendwo anders hin zeigen. Teilweise sind diese zwar orange oder sehr hellgelb und damit als Fälschung leicht zu entlarven, wer allerdings ahnungslos nach den Pfeilen liefe würde irgendwann eine böse Überraschung erleben. Bis Redondela fallen mir immer wieder falsche Pfeile auf beziehungsweise notwendige Wegweiser fehlen. Wer hinter diesen bewussten Falschangaben steckt weiß man wohl nicht.
Hinter Redondela zeigt sich zu meiner Linken eine große Wasserfläche. Es sieht aus als wäre ich am Schliersee in Oberbayern. Sanfte grüne Hügel und das satt blaue Wasser lassen die Illusion eines Binnensees aufkommen. In Wirklichkeit ist es der Meeresarm an dem auch die Hafenstadt Vigo liegt.
In Arcade, am nördlichen Ausläufer dieses Meeresarms, bekomme ich in einer Herberge ein Lager. Den ganzen Nachmittag kann ich von der Terrasse aus beobachten wie sich das Meer durch die Gezeiten bedingt zurückzieht und nur noch ein paar Priele übrig bleiben.
Herbergen bieten im Unterschied zu Hotels oder Pensionen weniger Komfort haben aber den Charme, dass man dort Pilger mit interessanten (Lebens-)Geschichten trifft. Auch wenn diesmal die Pilger aus Amerika und Asien fehlen ist in den Herbergen immer noch eine Mischung aller europäischen Nationen vertreten.
Zwei junge Frauen aus der Ukraine, die ich treffe, erzählen auf Englisch von ihrem Studium und ihren Berufsplänen, die ihnen Jobs in der EU ermöglichen. Als angehende Wirtschaftsprüferinnen sind sie beruflich in Belgien und den Niederlanden unterwegs und beeindruckt vom Lebensstandard dort. Ansonsten erzählen sie auch vom Unbehagen in der Ukraine über die Aktivitäten Russlands an der Grenze.
Ein junges Paar aus Stuttgart, mit dem ich ins Gespräch komme, berichtet von seinem Pilgerweg, den es in seiner Heimat zu Beginn des Jahres startete. Zu Fuß ging es ohne Unterbrechung bis nach Santiago. Jetzt laufen sie den Caminho Portugues in umgekehrter Richtung nach Porto, so als Ausklang ihrer Pilgerreise.
In den letzten Tagen geht es über geschotterte Pisten meistens eben dahin. Das Wetter zeigt sich von seiner guten Seite mit Sonnenschein und trotzdem moderaten Temperaturen. Die zweite Septemberhälfte scheint eine gute Zeit zum Pilgern zu sein. Als ich 2017 auf dem Camino Francés unterwegs war, zeigte sich das Wetter vergleichbar angenehm.
Pontevedra ist allemal eine Erwähnung und auch einen längeren Aufenthalt wert. Nachdem ich dort Mittags einkehre sehe ich mir die historische Altstadt mit eindrucksvollen Profan- und Sakralbauten an. Es ist Sonntag und in den Straßen sind viele Menschen unterwegs, auch wenn kein Laden geöffnet hat. Viele große Grünflächen und das Wasser dort geben der Stadt offensichtlich einen hohen Freizeitwert.
Mich treibt es mehr und mehr nach Santiago und ich überlege am vorletzten Tag ernsthaft durchzulaufen, das wären allerdings 35 km Gesamtstrecke und meine Blasen an den Füßen tun am Nachmittag schon ordentlich weh. Also beschließe ich in Milladoiro nochmal einen Zwischenstopp zu machen. Den Endspurt nach Santiago verlege ich auf Morgen.
Die Gemeindeherberge ist groß und sehr modern ausgestattet. In den Schlafsälen könnten regulär mehr als 30 Leute nächtigen, pandemiebedingt sind es jedoch zurzeit wesentlich weniger. Angenehm ist, dass es dort Schlafboxen statt normaler Betten gibt. Liegt man da erst mal drin, kann der Vorhang zugezogen werden und hat ein bisschen Privatsphäre. Dazu kommt noch eine zuschaltbare Leuchte zum Lesen oder Packen des Rucksacks am frühen Morgen. Die dortige Küche mit Gemeinschaftsraum ist sehr schön und zweckmäßig eingerichtet. So gesehen ein echter Maßstab für Herbergen.
Achteinhalb Kilometer sind es noch bis zum Platz vor der Kathedrale in Santiago zu laufen. Nach dem Aufbruch an diesem Morgen geht es auf Fußwegen, meist an verkehrsreichen Straßen weiter. Als ich die Stadtgrenze erreiche darf ich auf gepflasterten Wegen durch die Vorstadt laufen und das ist im Vergleich zu den Etappen in den Tagen zuvor öde. Erst als ich die historische Innenstadt erreiche ändert sich das. Hier gibt es enge Gassen, nur für Fußgänger. Trotz Corona ist dort ein reges Treiben. Mit hygienischem Abstand arbeite ich mich in diesen Gassen vorwärts und die Spannung steigt. Doch dann öffnet sich vor mir der Hauptplatz vor der Kathedrale und ich bin am Ziel angelangt. Das Gefühl ist wie beim letzten Mal überwältigend.
Tags darauf komme ich um kurz vor 11:00 h ohne Wartezeit in die Kathedrale. Das ist außergewöhnlich, denn es gibt aus hygienischen Gründen behördliche Auflagen wieviel Leute sich in der Kirche befinden dürfen, entsprechend gibt es Warteschlangen. Im Innenraum der Kathedrale ist auch nicht viel los und ich kann ungestört fotografieren.
Als ich vor vier Jahren die Kirche zum ersten Mal sah war alles eingerüstet, da das Gebäude umfangreich saniert werden musste. Jetzt erstrahlt alles im besten Glanz und ich habe Zeit das zu bestaunen. Die Pilgermesse beginnt um 12:00 h und ich fasse den Beschluss zu bleiben. Das heißt zwar etwas Warten, andererseits kann ich mir einen schönen Sitzplatz aussuchen. Alle Gottesdienstbesucher müssen einen Sitzplatz mit Abstand haben. Stehplätze gibt es zurzeit nicht.
Die feierliche und beeindruckende Messe beginnt pünktlich und nach der Kommunionausteilung sind wieder die Herren mit den roten Mänteln beim Vorbereiten des Botafumeiros zu beobachten. Das eigentliche Highlight beginnt, wenn vier Männer mit vereinten Kräften das Rauchfass zum Schwingen bringen. Über das ganze Querschiff fliegt dann das größte Rauchfass der Christenheit über die Pilger hinweg und verbreitet seinen Duft.
In den nicht einmal zwei Tagen, die ich in Santiago verbringe mache ich dann noch ein bisschen Sightseeing, kaufe Mitbringsel und lasse mir meine Compostela, die Pilgerurkunde im erzbischöflichen Pilgerbüro ausstellen. Direkt von Santiago aus trete ich diesmal meinen Rückflug nach München an.
Pilgern ist ja ein Abenteuer, anstrengend und zuweilen entbehrungsreich. Trotzdem war es auch diesmal wieder ein großartiger Urlaub in dem ich viel erleben durfte. Am eigenen Leib feststellen zu können, wie wenig eigentlich zum Leben wirklich notwendig ist und die Erfahrung, dass auch ohne Verkehrsmittel große Strecken zu überwinden sind, geben mir Energie für den schnöden Alltag, der jetzt wieder vor mir steht.
Wie schon berichtet stand ich in Portugal mehrfach vor der Herausforderung eine Bleibe für die Nacht zu finden. Alle Herbergen durften zu dieser Zeit maximal mit der halben Bettenzahl belegt werden. Bei Hotels und Pensionen galt das zwar nicht, jedoch waren insbesondere in Portugal viele Hotels geschlossen und auch Herbergen waren komplett oder zumindest tageweise nicht verfügbar. Ein vorheriges Reservieren mit Telefon war also immer geboten. Internetportale, wie z.B. Gronze, hatten nur bedingt zuverlässige tagesaktuelle Informationen. Nahe Vitorino stand ich vor der Tür einer geschlossen Herberge, die zurzeit nur noch alle zwei Tage geöffnet hat. Angeblich ist der Reinigungsaufwand momentan sehr hoch. Bei Gronze war dazu nichts vermerkt. Einen Kilometer weiter bekam ich in einer Herberge einen Platz, die eigentlich geschlossen sein sollte. Die Vorschriften und Regularien für den Verbleib in Unterkünften schienen sowohl in Portugal als auch in Spanien regional sehr unterschiedlich zu sein. Es gab Herbergen in denen jeder sein Essen wie gewöhnlich kochen und im Aufenthaltsraum verzehren konnte. Andere wiederum hatten ausschließlich den Aufenthaltsraum geöffnet.
Den Credencial habe ich mir bereits in Deutschland über meine Pilgergesellschaft besorgt, in der Kathedrale von Porto wäre er jedoch auch zu haben gewesen.
Wer mehr als die 100 km läuft, die für die Ausstellung der Compostela erforderlich sind, braucht diesen nur einmal täglich stempeln zu lassen. Mehr Stempel schmücken zwar den Pilgerausweis, sind aber nicht erforderlich. Lediglich Pilger die nur die letzten 100 km laufen, müssen zwei Stempel täglich vorweisen können. Ich schreibe das deshalb, weil ich wieder mal Pilger traf die hektisch jeden Stempel mitnehmen mussten, da sie glaubten ansonsten keine Urkunde zu bekommen.
Ausrüstungstechnisch habe ich zu meinen früheren Pilgertouren wenig verändert. Der Schlafsack wurde leichter, schwere Trekkingsandalen wurden gegen sehr leichte Laufschuhe für den Abend ersetzt und Reiseführer in Papierform wurden endgültig abgeschafft.
Im Unterschied zu meinen früheren Pilgertouren war ich diesmal nur mit Wanderhalbschuhen unterwegs. Auch wenn dieser Schuhtyp merklich leichter ist, habe ich meine knöchelhohen Wanderstiefel oft vermisst. Der Seitenhalt ist doch spürbar besser und das Fortkommen bei Regen, Schlamm und tiefen Lachen entspannter. Insbesondere bei der Tour auf den Portela Grande wäre das schon von Vorteil gewesen.
Absolut überzeugt haben meinen neuen T-Shirts aus Merinowolle. Der Schweiß wird sehr gut abgeleitet und verdunstet. Auch nach zwei Tagen ohne Waschen riecht da garnichts und nach dem Waschen sind sie sehr schnell trocken. Die bisher verwendeten hochwertigen Baumwoll-Shirts zeigten wegen der Belastung durch den Rucksack Verschleißspuren, die getragenen Merinoshirts steckten diese Belastung problemlos weg. Der Mehrpreis ist daher gerechtfertigt.
Sehr bewährt hat sich ebenso der Einsatz des Smartphone als Ersatz für den Papier-Pilgerführer. Auch wenn bei meinem vier Jahre alten Gerät zuweilen der Akku am Nachmittag schon schlapp machte und ich mit einer Powerbank nachhelfen musste, leistete es sehr gute Dienste. Zwei Reiseführer die es auch in Papierform gibt hatte ich dabei. Dazu verwendete ich diverse andere Apps, die bei der genauen Navigation und der Herbergssuche hilfreich waren. Ich benutzte Google MyMaps und spielte die passenden gpx-Tracks ein. Die gpx-Tracks waren von Gronze und hatten lediglich einmal eine feststellbare Abweichung. Als Ergänzung zu den Reiseführern war diese Methode sehr hilfreich wenn keine oder falsche Wegweiser die Navigation erschwerten. Tagebuch führte ich übrigens auch mit dem Smartphone. Zimmerreservierungen wurden häufig mit SMS oder Whatsapp erledigt, selten mit einer Hotelbuchungsapp.
Gerade in Zeiten von Corona war die App Sicher Reisen des auswärtigen Amtes eine große Hilfe. Sie zeigt die aktuelle Situation in allen Ländern der Erde und natürlich auch die Ein- und Ausreisebedingungen an. Für die Einreise nach Portugal konnte ich so alle Formalitäten vorab erledigen und der Übertritt nach Spanien war für mich einfach entspannter mit dem Wissen keine Anmeldung oder ähnliches zu benötigen. Die CoronaWarnApp mit meinen Impfzertifikaten hatte ich natürlich auch dabei.
Die seit Jahren währende Diskussion in Pilgerforen und -führern, ob es nicht besser sei das Smartphone zuhause zu lassen, kann ich daher immer weniger nachvollziehen. Seit meiner ersten Pilgertour 2015 hat es sich neben dem schweizer Offiziersmesser als universelles Werkzeug bewährt. Übrigens brauche ich jetzt keine Powerbank mehr. Nach meiner Rückkehr habe ich ein neues Smartphone beschafft, mit ganz viel Akkulaufzeit.
Wie man sich auf den Pilgerweg gut vorbereiten kann, ist übrigens in meinem Bericht zum Camino Francés zu finden → Link
Wer bei den Vorbereitungen und der Realisierung seines Camino auch persönliche Unterstützung haben will, dem empfehle ich Nicoletta Arps und ihre Website pilgerurlaub.de .
Titelbild: Foz Velha, die Altstadt von Porto am Douro.
Mitten im Text: Ausschnitt der Compostela
Abschlussbild: Die Kathedrale von Santiago mit dem großen Vorplatz
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