Prolog
Es regnet in Strömen und der Boden ist glitschig. Ein gehöriger Wind pfeift mir dazu um die Ohren und es geht steil bergauf. In der Bar von Zariquiegui sitzen noch viele Pilger, die auf besseres Wetter warten. Windenergieanlagen auf den umliegenden Bergen geben surrende und brummende Geräusche von sich. Der dunkelgraue Himmel tut ein Übriges, um die Situation unheimlich zu machen. Auf dem Alto del Perdón oben angekommen hat der Regen aufgehört und ich kann ein wenig den Ausblick genießen.
Der steile Abstieg nach Uterga ist durch den schlammigen Boden ebenso unsicher zu laufen wie der Aufstieg. Doch vor Uterga wird der Boden fest und ich komme am späten Nachmittag in Obanos an, wo in der Herberge ein Nachtlager für mich frei ist.
Am Abend nehme ich zum ersten Mal an einem Menu Peregrino teil. Von diesen Menüs gibt es einiges im Pilgerführer zu lesen und ich bin gespannt. Am Tisch sitzen Franzosen, Kanadier und US-Amerikaner. Obwohl sich keiner kennt, wird sofort über Heimat, Camino, Familie und viel Privates gesprochen. Die Atmosphäre ist überraschend vertraut. Ein schmackhaftes, mehrgängiges Menü mit Wein tut ein übriges um die Stimmung zu heben
Das war im Mai 2015 der erste Pilgertag. Dieser Einstand war intensiv und bleibt unvergesslich. Tags zuvor war ich in Pamplona angekommen und hatte bereits hier ersten Kontakt mit Pilgern.
Langsam komme ich in den „Pilgermodus“, der mich aus dem Alltagsleben in angenehmer Weise herauszieht.
An das Pilgerleben muss sich meiner einer allerdings noch gewöhnen. Der Morgen ist eh nicht meine Zeit und alles soll immer zügig gehen. Die ersten Tage wird noch jedes mal überlegt wie der Rucksack zu packen ist. Sollen die Zähne vor oder nach dem Frühstück geputzt werden? Wohin und wie weit möchte ich heute eigentlich gehen? Dazu kommt, dass ich mir jeden Tag meine Verpflegung und eine Unterkunft beschaffen muss.
Auch wenn das Luxusprobleme sind, als verwöhnter Zivilisationsmensch muss ich mich damit erst mal wieder vertraut machen. Als Pfadfinder oder Bergwanderer war es früher ja auch nicht anders. Mit den Tagen kommt allerdings Gewandtheit in den Pilgeralltag und auch mit meinem Minimalspanisch bekomme ich in Bars, Herbergen und Supermärkten was man braucht. In den Herbergen habe ich mich in eine gemeinsame Infrastruktur einzufügen und Rücksicht auf andere zu nehmen. Manchmal muss ich halt warten bis ich Duschen oder Waschen kann.
Die Orte in den ersten Marschtagen werden noch intensiv angesehen. Für die Kirche Santa María de Eunate lege ich am ersten Tag sogar einen Umweg ein. Für Kirchen gibt es ja in Pfarramt, Apotheke oder Bar einen Schlüssel. Schnell macht sich aber der enorme Zeitverbrauch bemerkbar. Ich komme oft spät in meinen Zielorten an und muss mir erst ein Nachtlager suchen. So wird bald der Beschluss gefasst, was nicht offen ist, wird nicht besichtigt.
Der erste Ort nach Obanos ist Puente la Reina. Ein nettes Dorf mit allerhand Läden, Bars und Infrastruktur, die Pilger so brauchen. Am Ende des Orts steht das eigentliche Highlight: Die mittelalterliche Brücke. Bei der Betrachtung dieses Bauwerkes muss ich mich den Kunsthistorikern und Architekten anschließen, die behaupten, es wäre die schönste Brücke am Camino.
Der Weinbrunnen am Kloster Irache ist für ein witziger Zwischenstopp. Für Pilger gibt es hier Wein und Wasser gratis, wobei der Wein an Ort und Stelle konsumiert werden muss. Ein paar junge Koreanerinnen nutzen die Weinquelle offensichtlich schon geraume Zeit, als ich dort ankomme und sind entsprechend gut drauf. Los Arcos in ca. 20 km Entfernung ist nach ihrer Aussage das Tagesziel. Ob das mit diesem Alkoholspiegel möglich ist, scheint mir allerdings fraglich. Später habe ich die Damen jedenfalls nicht mehr gesehen.
In diesen Tagen laufe ich durch eine Mittelgebirgslandschaft, mit leichten Hügeln und sehr viel Grün. Es ist Mitte Mai und die Landschaft blüht gerade auf. Die Temperaturen sind angenehm zum Laufen. Weder Schwitzen noch Frieren ist angesagt. Lediglich auf der Strecke nach Los Arcos macht sich nach 12 km ein ordentlicher Sonnenbrand bemerkbar. An den nächsten Sonnentagen wird also ordentlich eingecremt.
In Los Arcos marschiert man zuerst durch einen gefühlt unendlich langen Ort um irgendwann auf dem belebten Dorfplatz zu stehen. Meine Füße brennen höllisch, denn nach 32 km an diesem Tag habe ich große Blasen.
In einer Bar treffe ich July wieder, eine junge Francokanadierin die ich bereits in der Herberge von Obanos sah. Sie hat zwei Jahre als Studentin in Berlin gelebt und kann sehr gut deutsch. Sie isst heute nur Tapas und gesteht mir, dass ihr die Pilgermenüs nicht so liegen. Sie beklagt sich außerdem über die vielen Schnarcher in den Herbergen, die ihr den Schlaf rauben.
Los Arcos hat eine sehenswerte Kirche die offensteht und besichtigt werden kann. Die barocke Innenausstattung des Gotteshauses ist der Epoche entsprechend üppig.
In den Orten sprechen die Einheimischen eine mir unverständliche Sprache. Auch sind teilweise Schilder eigenartig beschriftet. Schnell wird mir klar, dass es sich um Baskisch handeln muss. In einer Bar bekomme ich eine Speisekarte in Baskisch, die kastillische Beschreibung gibt es kleingedruckt unter den Menübezeichnungen. In einer Herberge erfahre ich im Gespräch mit Einheimischen, dass man von der zentralspanischen Regierung nicht viel hält und lieber baskisch als spanisch sein will. Allerdings erlebe ich das eher eigensinnig und weniger als hartnäckigen Nationalismus. Als Pilger nehme ich es jedenfalls mit Schmunzeln zur Kenntnis.
Logroño in der Weinbauregion La Rioja heißt das heutige Etappenziel. Dazwischen befinden sich Torres del Río mit seiner nüchternen, jedoch sehr gefällig ausgestalteten Kapelle San Sepulcro und Viana. Dieser Ort glänzt mit einer beeindruckenden Kirche und zeigt sich als Straßendorf mit netten Häusern von einer sehr einladenden Seite. Aus dem Ort heraus geht es auf öden Wegen, zum Teil an einer Bundesstraße entlang weiter. Mit einem Iren und einer jungen Frau aus New Mexico komme ich ins Gespräch. Die US-Amerikanerin ist zum ersten Mal in Europa und hat von diesem Kontinent offensichtlich noch nicht viel gelernt. Sie fragt uns, was denn die EU sei und wie weit Deutschland und Irland von hier entfernt wären. So gibt es einen Expresskurs über die Europäische Union und Geografie. Der eigentlich langweilige Weg wird so erheblich verkürzt und ich habe was für die Allgemeinbildung getan.
Irgendwann stehen wir an der großen Brücke über den Ebro. Logroño ist in Sichtweite. Es ist heute später Nachmittag als ich mein Ziel erreiche und gerade mal die Gemeindeherberge hat noch ein Bett für mich. Die eigentlich präferierte Unterkunft ist schon voll. Von den Sehenswürdigkeiten der Stadt bekomme ich nur die Fassaden zu sehen. Die Kirchen haben alle geschlossen als ich vorbeikomme und speziell die barock ausgestaltete Konkathedrale Santa Maria la Redonda hätte mich ja schon interessiert. Der Weg aus Logroño heraus ist ebenso fad. Vorbei an Geschäfts- und Wohnhäusern latscht man auf gepflasterten Wegen neben stark befahrenen Straßen. Hier wäre ich schon geneigt ein paar Kilometer mit dem Bus zu fahren. Das tue ich dann aber nicht, denn der Pilgerstolz lässt so etwas nicht zu.
Nach einem ruhigen Stausee kommt eine kleine Hütte, an dem Marcellino der Eremit Stempel und Obst an die Pilger verteilt. Eine Spendenbox steht gleich neben der Obstschale. Marcellino ist ein alter Mann mit Rauschebart, der sich mit den Pilgern über Weg und Sinn des Pilgerns unterhält. Der Platz um den Stand herum lädt zu einer Pause ein und dabei treffe ich einige deutsche Fahrrad- und Fußpilger.
Die private Herberge in Ventosa gefällt mir und so beschließe ich hier zu übernachten. Zu meiner Freude sind einige bekannte Gesichter ebenfalls dort. Betsy und Michael sind ein pensioniertes Geschwisterpaar. Er lebt in Florida, sie in Oregon. Ihr Vater ist im Jahr zuvor verstorben und der Camino ist für sie der ideale Weg nochmal etwas gemeinsam zu machen. Den Vater tragen sie dazu im Herzen. Am Abend unterhalten wir uns ausgiebig über Wirtschaftspolitik und Sozialsysteme auf beiden Seiten des Atlantiks. Für mich ein aufschlussreicher Abend.
Cirueña ist ein Ort in dem die Folgen von Größenwahn, der Finanzkrise von 2008/09 und dem darauf folgenden Platzen der Immobilienblase in vollen Zügen sichtbar sind. Der Pilgerweg geht durch ein Neubaugebiet in dem viele neue Häuser leer stehen und zum Verkauf angeboten werden. Nur in wenigen Häusern leben Menschen, ansonsten wirkt die Siedlung wie ein Geisterort. Für 10.000 Menschen wurde hier geplant, mit allem was dazu gehört. Doch niemand wollte oder konnte dort hinziehen, nachdem die Banken kein Geld mehr hatten.
Santo Domingo de la Calzada ist ein nettes kleines Städtchen, das ich zur Mittagszeit erreiche. Nach Verzehr eines Tortillas in einer der zahlreichen Bars sehe ich mir den Ort genauer an. Am Plaza de España stehend könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese Stadt zehnmal größer ist als die 6.000 Einwohner die sie offiziell hat. Das Rathaus zeigt sich mächtig und der Platz davor macht was her. Berühmt ist die Stadt ja wegen des Hühnerwunders, das hier am Pilgerweg irgendwann im Mittelalter geschah. Die dortige Kirche anzusehen gehört daher zum Pilgerprogramm. Da gibt es, einzigartig wohl überhaupt, zwei lebende Hühner im Gotteshaus. Alle paar Wochen werden die Tiere ausgetauscht, zwischendrin selbstverständlich versorgt und gepflegt.
Sieben Kilometer weiter erreiche ich Grañón, wo ich übernachten möchte. Was ich in der kirchlichen Herberge dort erlebe bleibt für mich unvergesslich. Die Herberge ist in den Kirchenbau integriert und könnte eine riesengroße Wohnung sein. Alles ist recht behaglich eingerichtet mit Möbeln, die sicher nicht mehr die jüngsten sind. Geführt wird alles von freiwilligen Helfern, die meist selbst mal Pilger waren und hier während ihres Urlaubs als Freiwillige arbeiten. Jeder Pilger ist allerdings angehalten ebenso mit zu arbeiten.
Um 18:00 h werden alle zusammengetrommelt. Nach einem Briefing, wie der Abend abläuft, werden Aufgaben verteilt. Alle legen los und arbeiten mit. Innerhalb einer halben Stunde sind im Aufenthaltsraum Tische und Klappstühle aufgebaut, die Tische gedeckt und das Gemüse für's Abendessen geputzt. Um 19:00 h sind alle in der Kirche und wir feiern mit dem lokalen Pfarrer Messe. Anschließend dürfen wir auch noch ein kleines, sehenswertes Pastoralmuseum in einem Nebenbau der Kirche ansehen. Jetzt haben alle Hunger, trotzdem wird von allen mitgeholfen Essen, Wasser und Wein zu verteilen. Jeder bekommt eine ordentliche Portion Nudeln mit schmackhafter vegetarischer Soße und einen Nachtisch. Später stellt sich heraus, dass neben Protestanten auch Carolin, eine Jüdin, dabei ist. Sie ist aus Interesse hier auf dem Pilgerweg und fühlt sich nach eigenen Worten sehr wohl hier.
Villafranca Montes de Oca ist eigentlich kein Ort der gesonderter Erwähnung bedarf, außer dass ich dort in der kommunalen Herberge ein Nachtlager beziehe. Eine Bar, welche ein Pilgermenü anbieten würde, sehe ich in der Umgebung nicht, so folge ich der Empfehlung anderer Pilger ins gegenüberliegende Hotel zum Essen zu gehen. Zuerst bin ich sehr zurückhaltend, am Eingang wird aber auf einem Schild ein Pilgermenü mit drei Gängen und Wein für € 12,– angeboten. In einem großem Speisesaal mit weißen Stofftischdecken und -servietten führt mich ein Kellner zu einem Tisch, an dem bereits ein Franzose sitzt. Mit diesem komme ich auf Englisch ins Gespräch und erfahre, dass er ebenso Pilger ist. Er übernachtet ausschließlich in Hotels am Camino, denn die Herbergen in Spanien sind ihm zu karg. Seinen Rucksack trägt er allerdings selbst. Von ihm erfahre ich auch, dass sich der Hotelier den Pilgern verpflichtet fühlt und daher ein günstiges und gutes Menü anbietet. Das Essen ist wirklich gut, mit Salat als Vorspeise, Rindfleisch als Hauptgang und einem Nachtisch. Dazu gibt's Rotwein wie ich ihn mag. An diesem Abend gehe ich mit einer neuen Erfahrung wohl gesättigt in die Herberge zurück.
Bereits seit Nájera ist das Gelände nicht mehr so ausgeprägt und die Hügel flacher. An sich ist es angenehmer zu marschieren, jedoch verlaufen die Wege zuweilen an stark befahrenen Landstraßen. Nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind die Orte am Pilgerweg. Versorgungsprobleme mit Wasser und Proviant muss ich hier also nicht fürchten. Lediglich hinter Villafranca Montes de Oca ist nochmals ein steiler Aufstieg auf über 1.000 m Höhe zu überwinden.
In San Juan de Ortega kann ich die bekannte Klosterkirche betreten. Trotz Baustellengerüst ist ein Großteil der Kirche anzusehen. Ein paar Meter weiter befindet sich eine Bar, die mir bei meinem Hunger gerade gelegen kommt. Christina aus München, die mir schon ein paar Mal über den Weg gelaufen ist, sitzt dort bereits. Während ich Bocadillo und Limonade zu mir nehme ratschen wir über die Kirche nebenan, die nächsten Etappenziele, Beruf und vieles mehr.
Um in das Zentrum von Burgos zu gelangen ist mal wieder eine sehr verkehrsreiche und lange Einfallstraße abzulaufen. Nach gefühlten 20 km erreiche ich die Altstadt und dort klopft mir ein alter Mann auf die Schultern. Mit meinem minimalistischen Spanischkenntnissen verstehe ich, dass er es klasse findet zu Fuß in die Stadt gekommen zu sein. – Viele nehmen wohl den Autobus.
Nachdem ich mein Nachtquartier bezogen habe, laufe ich los und sehe mir die tolle Stadt an. Die lange Geschichte dieses Ortes ist in allen Straßen und Gassen sichtbar mit vielen historischen Gebäuden und Denkmälern. El Cid, der berühmte Reconquistador und Nationalheld, ist in Denkmälern und Fresken mehrmals in der Stadt verewigt.
Irgendwann stehe ich vor der mächtigen gotischen Kathedrale und kann nur staunen. Die Besichtigung der Kirche dauert länger. Das Gotteshaus ist voll mit Kunst aus verschiedenen Epochen und wird detailliert von mir besichtigt.
Der Weg aus Burgos heraus ist im Vergleich zum Weg herein schöner. Das Universitätsviertel ist wesentlich ansprechender als das Industriegebiet tags zuvor. Mein Ziel ist es heute bis Fuente de Sambol zu kommen. Die dortige Herberge wird in meinem Reiseführer wegen seiner landschaftlich schönen Lage empfohlen. Das Laufen zieht sich heute und ich komme dort erst im Lauf des Nachmittags an. Die Herberge ist schon voll, bekomme ich am Eingang zu hören. Trotzdem genieße ich die tolle Lage des Refugios*, esse vom Proviant und fülle am dortigen Brunnen die Wasserflasche. Eine Stunde später ist Hontanas erreicht. 32 km liegen hinter mir und in der ersten Herberge am Ortseingang bekomme ich ein Lager. Die Herberge hat erst dieses Jahr neu eröffnet und alles ist sehr gut und schön eingerichtet. Dazu bekomme ich dort ein reichhaltiges und leckeres Pilgermenü.
Die letzten beiden Etappen auf dem Weg nach Fromistá zeigen mir intensiv den Wechsel der Landschaft. Ich habe die Meseta erreicht, jenes Hochplateau das sich nun in mehr als 800 m Höhe bis hinter León zieht. Die Wege werden immer flacher und langgezogener. Zudem brennt die Sonne ordentlich herunter. Über Getreidefelder geht es jetzt dahin und die Dichte der Ortschaften am Weg ist spürbar geringer.
Als ich Frómista erreiche ist Wehmut in mir, denn dieser Ort ist Endstation für dieses Jahr. Gleich neben dem Bahnhof befindet sich eine Herberge mit Bar. Eine junge Pilgerin checkt dort gerade in der Herberge ein und grüßt mich auf deutsch. Wir setzen uns zusammen an einen Tisch, essen und reden über unseren Camino. Klara kommt aus Soest und hat gerade ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester abgeschlossen. Bevor es jetzt ins Berufsleben geht, hat sie beschlossen nach Santiago zu pilgern. Ich wünsche ihr noch einen guten Weg und verabschiede mich, denn mein Zug nach Madrid kommt in ein paar Minuten. So vergeht der letzte Tag am Camino und ich trete den Weg zurück in den Alltag an.
* Refugio: Spanischer Ausdruck für Herberge
Titelbild: Skulptur eines Pilgerzuges auf dem Alto del Perdón
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